Arbeitsbeispiele/Fotografie
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Zugriff in Brakel, Geschichte einer Drückerkolonne unter Einsatz des Dudens

Text von Stephan Ott und Jörg Stürzebecher
Fotografien von Ursula Wenzel
Darsteller: Wolfram Koch
Ferdinand

Johannes

Max

Ludwig

Walter

Dr. Sokrates
sieht klar und klinkt sich aus

findet das Selbstverständliche logisch

ist aggressiv und konstruktiv, aber nie zur gleichen Zeit

findet das Logische selbstverständlich

kommt ordentlich in die Bredouille

leitet die Kolonne und macht sich auf alles es einen Reim
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Hypothetisch
Früh am morgen krähten die Wecker 1. Die Liegenden im Schlafsaal drehten sich noch
einmal auf ihren Matratzen, aber schon drehte sich auch der abgegriffene Türknauf, und im Rahmen stand, vom Notlicht erleuchtet wie ein Weiser, Dr. Sokrates 2, der Kolonnenleiter. »Aufstehn, aufstehn«, schnarrte die Stimme, »die Hörnchen wollen verdrückt sein, und nach dem Tellerbenutzen kommt das Klinkenputzen …«. Weiter kam er nicht, denn Max war mit dem »Aufstehn, aufstehn« tatsächlich nicht nur gestanden, sondern gesprungen, und drückte ein für diesen Zweck höchst geeignetesKissen Dr. Sokrates auf den Mund.


Philosophisch
»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« 3, ergriff der mittlerweile ebenfalls erwachte Ludwig das Wort. Ergriffen von der drückenden Last dieses Satzes ließ Max das Kissen auf der Stelle fallen. Dr. Sokrates schnappte nach Luft. Ohne Max eines weiteren Blickes zu würdigen, machte er auf dem Absatz kehrt und sprach: »Macht, was Ihr wollt, aber in einer halben Stunde ist Abfahrt. Heute geht's nach Brakel und da gilt es einen formidablen Eindruck zu hinterlassen«. Die anderen schauten sich irritiert an und trotteten, wortlos, hinaus. Als letzter, nachdem er seine Schlafdecke akkurat zusammen gelegt hoffe, verließ Walter mit Raum greifendem Schritt das Gemach.


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Fabriziert
Wortlos erledigte die Gruppe das Reinigungs- und Ernährungsprogramm. Froh, für seinen Angriff nicht weiter getadelt worden zu sein, drückte Max den letzten Rest Kaffee aus der Isolierkanne und grübelte vor sich hin. Machmal hatte er schöne Gedanken 4, dann wieder hässliche, und manchmal auch tiefgreifende. Nur die ersten und die letzten teilte er für gewöhnlich den anderen mit, denn er ängstigte sich sehr vor Kritik. So hatte er einmal, nach dem besonders erfolgreichen Verkauf eines mathematisch präzisen Türdrückers an einen kunstbegeisterten Radiologen, einem älteren Kollegen erklärt, an der Spitze sei eben nur Platz für einen 5. Der Kollege hatte zornig reagiert und wolltemit Max nicht mehr reden. Das sei zwar nun auch hart, meinten die anderen, im übrigen aber sei Maxens Äußerung sicher ein Griff ins Klo. Und nachdem er sich morgens schon an seinem Chef vergriffen hatte, wollte er sich nicht auch noch im Ton vergreifen. Doch ließ ihm der formidable Eindruck keine Ruhe. Warum konnte es nicht einfach heißen, ihr müsst Umsatz machen, warum musste alles so wichtig genommen werden, wo es doch nur um Klinken und Oliven, Langschilder und Rosetten ging? Sicher, das Sortiment konnte sich sehen lassen, aber sprach es nicht, wie Johannes immer betonte, für sich selbst? Formidabler Eindruck, klar, das war schon gewitzt, dieser Hinweis darauf, dass die Klinken nicht nur funktionierten, sondern eben auch geformt waren. Doch war nicht, wie er zu Beginn seiner Verkaufstätigkeit gelernt hatte, gute Form möglichst wenig Form, und hatte nicht Dr. Sokrates eben das noch vor einiger Zeit behauptet? War formidabel da nicht zu dick aufgetragen? Doch dann erinnerte Max sich an etwas, an eine Notiz, und die war genau das richtige. Denn wenn es Kritik gab, konnte er immer noch sagen, es sei nicht sein Gedanke gewesen, er habe nur zitiert. Und als sich die Gruppe nun vor dem Bus gesammelt hatte, blickte Dr. Sokrates in die Runde und fragte, ob jemand noch Fragen oder Bemerkungen hätte. »Ja«, antwortete Max, sich der Zustimmung seiner Kollegen in der Kritik der Weckmethoden sicher, »Eindruck mache ich meinem Kopfkissen«. 6
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Fortfahrend
Sie saßen in der Tonne – so nannten sie in Erinnerung an ihren ehemaligen Ver-
triebsleiter Diogenes den Kleintransporter – und passierten auf der A3 gerade das Seligenstädter Dreieck in Richtung Norden. Alle mittlerweile vergriffenen Klinken-kollektionen waren auf der Konsole drapiert, die Musterkoffer mit den über hundert aktuellen Modellen standen griffbereit im Fond. Dr. Sokrates fuhr, das Steuer mit beiden Händen fest im Griff. Auf dem Beifahrersitz saß Ferdinand und blickte aus dem Seitenfenster. Die anderen dösten auf den hinteren Sitzbänken. Als eine Waldlichtung einen kurzen Blick auf die Frankfurter Skyline freigab, seufzte Ferdinand, kaum hörbar: »Das war mal mein Gebiet.« »Ja, ja«, erwiderte Dr. Sokrates, »aber wenn ich mich recht erinnere, waren da auch unzählige Rückgriffe dabei. Ist nämlich erwacht erst einmal der Hess', wird er leicht handgreiflich und fordert Regress.« »Trotzdem, Sokrates, wir sollten hier unser Glück probieren.« Mit einem Mal war Ferdinands Wehmut Entschlossenheit gewichen. »Na gut, versuchen wir es.« Sie verließen die Autobahn, und Dr. Sokrates lenkte den Transporter auf einen Parkplatz. »Geht mir aus der Tonne« 7, warf er den aus dem Dämmerschlaf Erwachenden zu, »gegen Mittag treffen wir uns wieder.«
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Ankommend
Der Parkplatz war gut gewählt Kaum waren die Musterkoffer ausgepackt, nahte ein Bus, der die fünf Profiverkäufer in die Stadt brachte. Während der Fahrt ordnete Walter jedem sein Zielgebiet zu. Ferdinand erbot sich eines seiner ehemaligen Stammgebiete, eine Siedlung im Westen; Johannes wurde ein Villenviertel im Norden zugeteilt, für Max wurde das östliche Gerichtsviertel als geeignet bestimmt, und Ludwig sollte mit dem Musterkoffer besonders überlegt gestalteter Griffe das südliche Museumsufer überzeugen. Für sich selbst hatte Walter die Stadtmitte gewählt.

Nahe des Gerichtsviertels stieg die Gruppe aus und zerstreute sich. Walter begab sich in die Fußgängerzone. Zunächst forschen Schritts wurde er immer unsicherer, denn die Ladeneingänge, die er sah, benötigten vielleicht manchmal ein Glasputzmittel, aber nie einen Griff. Da gab es Schiebetüren und Drehkreuze, versenkbare Eingangsbarrieren und Frontfaltkonstruktionen, aber all dies funktionierte ganz grifflos mit Schaltern. Hier, das begriff Walter nun, gab es zwar Geschäfte in Hülle und Fülle, für ihn aber war kein Geschäft zu machen. Nachdenklich setzte er sich auf eine Rundbank und beschloss, erst einmal zu pausieren. Warum, sinnierte er, konnte das Klinkenverkaufen nicht so einfach sein wie beispielsweise das Öffnen einer Getränke-
dose? Ein Ringgriff, darin ein Finger, die anderen umgreifen den Rand, schon ist das Ding offen. Geht aber nicht wieder zu, überlegte er weiter, also doch nicht so praktisch. Während er so über seinem geöffneten Koffer brütete, aus dem er gerade seine Brotzeit entnommen hatte, kam ihm eine Idee. Und da Ludwig, dem man mit Ideen nicht kommen durfte, weit weg war, beschloss Walter, die Idee in die Tat umzusetzen. Denn wer sagt denn, das Vertreter immer von Türgriff zu Türgriff laufen müssen, wenn in einer Fußgängerzone doch lauter potentielle Kunden entlanglaufen.

Also stellte Walter seinen geöffneten Koffer quer zum Fußgängerstrom und sich selbst neben den Koffer und rief, Dr. Sokrates` Hang zum Reimen aufgreifend: »Hochverehrtes Publikum, drehen Sie zu mir sich um, Türdrücker gibt es, ihr Leute, die gefall´n euch nicht nur heute, sondern, da habt keine Sorgen, die gefallen euch auch morgen, die Montage, müsst ihr wissen, ist im Preis schon inbegriffen …« Hier stockte er, der letzte Reim war ihm wohl nicht ganz gelungen, vor allem aber spürte er Druck auf seiner Schulter. Seitlich von ihm hatte sich ein Ordnungshüter postiert der mit seiner schwarzen Uniform und seinem Schlagstock den Inbegriff der Gegner-schaft zum Straßenhandel verkörperte. »Kann ich ihre Erlaubnis für Straßenhandel sehen?«, fragte er lauernd. Walter verstand nicht. Erst als ihm bedeutet wurde, er solle sich nicht so begriffsstutzig anstellen, erklärte er, er sei doch spontan auf diese Idee gekommen, weil doch die Drehtüren und so. Der eine andere Ordnung als Walter Vertretende schnitt ihm das Wort ab, packte ihn am Arm und nahm ihn in den Polizeigriff. Er forderte Walter so nachdrücklich zum Mitkommen auf und erklärte jovial dem gaffenden Publikum, bei Straßengewerbe ohne Genehmigung müsse man hart durchgreifen, die Zeil sei schließlich kein Basar.


Ferdinand
Gemeinsam schlenderten Ferdinand und Johannes zur U-Bahn. Das gemeinsame Interesse an den Sensationen des Gewöhnlichen, am Alltag, verband sie. Gewohnt, sorgfältig und ohne Hast zu arbeiten, ließen sie sich auf dem Bahnsteig Zeit und studierten die Faltkonstruktion der Wageneingänge, das Ineinandergreifen per Knopfdruck. Dann begann die U-Bahn-Fahrt in den Westen der Stadt. Ferdinand wollte, bevor er im Neuen Frankfurt »seine« Klinken putzte (ein absurder Kunstgriff
8, wie ihm schien), noch einen kurzen Zwischenstopp an der alten Universität einlegen, der guten alten Zeiten wegen. Damals hatten Arbeit und Leben noch auf wunderbare Weise – und anders als bei den Falttüren – ineinander gegriffen und das Ergebnis konnte sich – so hoffte er – immer noch sehen lassen. An der Station Bockenheimer Warte wollte er aussteigen, drückte jedoch in der Annahme, es sei der Türsensor, versehentlich den Fahrerruf »Was iss ?...« blaffte eine unfreundliche Stimme. »Nichts«, antwortete Ferdinand, »ich möchte aussteigen.« »Eihorrschemaa, mach kei Bosse, de Knopp für die Dier is eins drunner.« »Sehen Sie mir bitte mein Versehen nach«, ent-schuldigte sich Ferdinand ins Mikrofon. Er hatte nicht die Absicht, den unangemesse-nen Ton aufzugreifen. Er öffnete die Tür und beeilte sich den Untergrund zu verlassen. Offenbar, sinnierte er über seinen Fehlgriff nach, bedurften Türöffner immer häufiger aufleuchtender oder beschreibender Begleitung: Ziehen-Drücken-Auf-Zu, -Vorsicht, Drehtür – Bitte zurücktreten, Türen schließen erst nach Freigabe, all diese Hilferufe waren beim Öffnen einer Tür mittels Klinke nicht notwendig. Ein Griff, und die Sache war erledigt. Ferdinand erreichte das Tageslicht und traute seinen Augen nicht. Teile des Campus' waren verwaist, seine, Ferdinands Gebäude 9 verlassen und von Absperrgittern umgeben. Schilder verboten unter Androhung von Strafe das Betreten, die offene Universität war geschlossen. Ferdinand machte auf dem Absatz kehrt und verließ, so schnell er konnte, den unwirtlichen Ort. Für heute hatte er genug gehört und gesehen. Durch das Marktgewühl eilend, erreichte er den Taxistand und ließ sich zum vereinbarten Treffpunkt zurückfahren. Den Besuch des Neuen Frankfurt wollte er sich ersparen, denn in Verkaufsstimmung war er wirklich nicht mehr. Die anderen würden ihn sicher verstehen.


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Johannes
Da Johannes bereits nach einer Station die Bahn gewechselt hatte, bekam er von Ferdinands Schwierigkeiten nichts mit. Technik hatte für ihn einfach zu funktionieren, und in seiner Bahn bereitete sie ihm auch keine Probleme. An der ersten oberirdischen Station des immer noch U-Bahn genannten öffentlichen Verkehrsmittels – U wie Umgebungsbahn, interpretierte Johannes – stieg er aus.

Vor einer neuen Glasfassade las er den Namen eines Innenarchitekten. Johannes meldete sich an, erfuhr, dass er Glück habe, heute sei Vertretertag und wurde gebeten, einen Moment zu warten. Der Besucherraum war beeindruckend: Trotz der bis zum Boden reichenden Fenster war der gesamte Bereich völlig blendungsfrei, die verputzten Wände strahlten nicht, sondern verbreiteten angenehme Helligkeit, flache Sitzmöglichkeiten luden zum Verweilen ein. Nichts roch, alles duftete, auf niedrigen Regalelementen lagen die neuesten Ausgaben internationaler Gestaltungszeitschriften. Das war kein Vorzimmer, in dem er da weilte, auch kein Wartezimmer wie beim Arzt, das glich einer Lounge auf dem Flughafen für Geschäftsreisende. Johannes gefiel der Raum, wie gut passte zu ihm das klassische Klinkenprogramm »weniger aber besser« 10 oder die erst seit wenigen Monaten erhältliche Kollektion »Der Goldene Schnitt«. Dann wurde er gebeten, seine Produkte vorzustellen. Johannes war ganz in seinem Element, erklärte an den griffbereiten Modellen die optimierte Produktion, die Ballenstütze und das Haltevolumen und erwähnte die funktionalen Details. Er vergaß auch die zahlreichen Preise nicht, die nicht nur die Produkte selbst, sondern auch die Kommunikationsmittel gewonnen hätten. Der Architekt hörte und stimmte zu, unbestritten, das seien überlegte Qualitätsprodukte, die im Wettbewerb bestehen würden. »Aber haben Sie schon einmal etwas von intelligenter Hauselektronik gehört«, fragte er. Johannes bejahte, verstand aber nicht den Zusammenhang mit Türdrückern. »Sehen Sie, das habe ich mir gedacht«, fuhr der Architekt fort, »deshalb möchte ich Ihnen darüber etwas erzählen. Denn in so ausgestatteten Häusern gibt es keine Türdrücker mehr, sondern nur noch, und auch das ist eine Übergangser-
scheinung, elektronische Öffnungs- und Verschlussmöglichkeiten. Dabei weiß der Zentralrechner heute schon genau, welche Türen er welchem Benutzer öffnen soll und welche nicht, und wie Durchzug verhindert wird und trotzdem immer alles einen offenen Eindruck für die Besitzer macht und Einbrecher keine Chance haben. Sicher, so etwas kostet viel Geld, aber Menschen mit viel Geld und Wertgegenständen haben nun einmal Angst davor, dass ihnen etwas davon abhanden kommt, oder, wie Sie vielleicht sagen würden, ihnen etwas abgegriffen wird, und wir möchten eben Kunden mit viel Geld, und deren Wünsche sind unsere Herausforderung. Verstehen Sie mich richtig, ich schätze Ihre Produkte, aber gehören sie wirklich in unsere Zeit?« Der Architekt bedeutete ihm bestimmt, dass er nun keine Zeit mehr habe, wenn er sich vielleicht einmal wieder mit historischen Bauten beschäftige, würde er gerne auf Johannes zurückkommen, aber wann das sei, könne er wirklich nicht sagen, und so fand sich Johannes kurz darauf draußen vor der Tür wieder und kam sich sehr alt vor.


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Ludwig
Ludwig war zu Fuß ans Museumsufer gelangt. Erste Station waren nahe der Brücke gelegene Seniorenwohnungen. Deren Bewohner, so dachte er, müssten nicht erst vom Sinn klassischer Türdrücker überzeugt werden. »Greifen Sie zu.« Unvermittelt hielt eine freundliche Dame Ludwig eine Dose Kekse vor die Nase. »Die sind von meiner Tochter, selbst gebacken.« Ludwig ahnte, was da käme. Die Bewohnerin würde sich gleich anschicken, aus ihrer Handtasche ein abgegriffenes Foto der Tochter hervorzuholen. Dem wollte Ludwig zuvorkommen. »Sehr freundlich, vielen Dank, aber können Sie mir sagen, wo ich die Wohnungsverwaltung finde?« »Was wollen Sie denn verkaufen?«, fragte die Bewohnerin. Ludwig überlegte, wie er das Gespräch mit der Dame abkürzen könne. »Türdrücker stimmt's? Den Musterkoffer kenne ich von früher, vor allem den charakteristischen Griff«, setzte die Bewohnerin ihre Analyse unbeirrt fort. Ludwig wurde es zunehmend unbehaglich. »Da brauchen Sie hier gar nicht erst Ihr Glück zu versuchen, wir sind versorgt. Wissen Sie, der Bedarf an Türdrückern ist bei uns gering, wir sind im Begriff, in Zukunft ganz ohne sie auszukommen. Wir überlegen, den Zugang mittels moderner Bussysteme zu sichern. Bei elektronischer Gesichtserkennung haben Eindringlinge keine Chance.« Ludwig war sprachlos. »Probieren Sie es doch mal in den Museen, vielleicht haben die Bedarf für ihre Sammlungen.« Ludwig nickte. Sie wünschte viel Erfolg und ließ ihn unvermittelt stehen.
wolfram koch 10 Ludwig ging durch den Park und setzte sich auf eine Bank. Je länger er darüber nachdachte, desto schlüssiger schien ihm das Gehörte. Kurzentschlossen ging er in eines der benachbarten Museen. An der Information hinterlegte er für den zuständigen Kurator seinen Musterkoffer. Erleichtert machte er sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.

Max
Max war irritiert. Wieso hatte Walter ihm ausgerechnet das Gerichtsviertel zugeteilt, einen Stadtteil zwischen Ausfallstraßen, Billigläden 11 und dem Zoo? An Türdrückern war hier weniger Bedarf als an Türstehern. Als ihm bei seinem Streifzug dann auch noch bedeutet wurde, man brauche keine Klinke, wenn einem der Kabarettist fehle (so zumindest hatte Max es verstanden) 12, war er völlig davon überzeugt, dass in so einer Gegend nichts zu machen sei. Um wenigstens etwas Werbung zu machen, überließ er der Stadtbücherei einige der aufwendigen lnformationsschriften, die Dr. Sokrates so schätzte, und es gelang ihm sogar, einen zweiten Schuber der gar nicht so handlichen Bücher in einem Antiquariat gegenüber zu verkaufen. »Zwar wenig, aber mehr als nichts«, 13 dachte er, »vielleicht sollten wir alle ins Verlagswesen wechseln. Drückerkolonnen gibt es dort schließlich auch.« Dann stutzte Max, er glaubte, den vertrauten Schritt Walters zu hören. Und richtig, da kam der erfahrene Kollege den Bürgersteig entlang, in unfreiwilliger Begleitung. Max zögerte nicht. War ein Kollege in Gefahr, so galt es beizustehen. Nur war Walters Begleiter ihm an Kräften offensichtlich überlegen. Also galt es, eine handgreifliche Auseinandersetzung zu vermeiden. Max wusste, was hier zu tun war, nur musste Walter ihn zuvor bemerken. Er ging auf das ungleiche Paar zu und wartete auf ein Erkennungszeichen Walters. Dieser zwinkerte ihm zu, Max ließ die beiden vorbei und folgte ihnen in kurzem Abstand. Aus seinem Koffer holte er einen sachlich-geometrischen Türgriff, dessen kurzes, im Normalgebrauch rechtwinklig zur Tür stehendes Rohrteil er in die Hand nahm. Den Abstand zu seinen Vorgängern verkürzend bohrte er endlich das längere Griffstück dem Hünen in den Rücken. »Sofort loslassen«, flüsterte er, und gleich nach der Schrecksekunde lockerte der Bedrohte den Griff um Walters Handgelenk. Dieser entwand sich vollends, schnappte seinen und Maxens Musterkoffer und flüchtete darauf zum Bus, dem Treffpunkt mit Dr. Sokrates entgegen. Nachdem der Vorsprung ausreichte, ließ Max von dem unter dem Druck einer vermeintlichen Waffenlaufmündung erstarrten Ordnungshüter ab und stürmte mit ausgreifendem Schritt Walter nach.


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Abschied und …
»Erfolgreich war dieser Ausflug in die Großstadt nun nicht gerade«, fasste Dr. Sokrates die Berichte zusammen. Die anderen pflichteten bei. Einige Bücher verkauft, einen Musterkoffer mit unsicherem Ausgang losgeworden, ansonsten Misserfolge, die aufs Gemüt schlugen. Dr. Sokrates schloss das Auftragsbuch und legte den Griffel beiseite. Er startete. Bald lag der dichte Umgehungsverkehr hinter ihnen, die sanften Linien der Landschaft kontrastierten mit den im Dunst verschwindenden Stadtvertikalen. Hinter Kassel verließen sie die Autobahn und zuckelten die Landstraße nach Norden. »Haben wir etwas falsch gemacht?«, fragte Ludwig in die Gruppe hinein und sich selbst. »Ich denke nicht«, antwortete Dr. Sokrates, »vor uns hat sich doch niemand für Türklinken interessiert. Wir haben mit der Funktion angefangen, so wie andere eben Licht statt Lampen verkaufen, wir haben unsere Arbeit reflektiert, die Geschichte unserer Produkte erforscht, wir haben Studenten mit unseren Griffen Freiräume eröffnet, und alles hatte Hand und Fuß. Wer hätte am Anfang unserer Arbeit schon gedacht, dass wir über Beschläge einmal so beschlagen sein werden.« Ein Anruf unterbrach die Selbsteinschätzung. Dr. Sokrates nahm das Gespräch an. Die anderen hörten Zustimmung. Er legte auf und beglückwünschte Ludwig: »Dein Musterkoffer war ein Volltreffer. Das Museum will tatsächlich eine Ausstellung machen.« Ludwig war keinesfalls überrascht, er hielt die Mitteilung für folgerichtig, geradezu für logisch.


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Willkomm
Kurz nachdem die Tonne das Ortsschild von Barrel passiert hatte, nahm Dr. Sokrates im Rückspiegel einen Mannschaftswagen der Polizei wahr. »Ich glaube, die Wanne verfolgt uns.« Kaum hatte er den anderen seine Vermutung mitgeteilt, forderten ihn Laufschrift und Lautsprecher auf, anzuhalten. Der Polizeiwagen hielt – in Manier US-amerikanischer Streifen – hinter ihnen. Zwei Beamte stiegen aus, die Hände, so schien es, griffbereit an der Dienstwaffe. »Guten Tag, die Herren, Sondereinsatzkommando, Ausweise und den Gewerbeschein bitte«, wandte sich der jüngere Beamte an Dr. Sokrates. Der Kollege stand etwas abseits, seine Rechte lag, wie sich nun herausstellte, auf einem Funkgerät. Dr. Sokrates nestelte seinen Ausweis aus der Brieftasche und reichte ihn dem Beamten. Der nickte, nachdem er den Namen gelesen hatte, seinem Kollegen zu, der daraufhin, für alle hörbar. »Zugriff Gruppe Alpha erfolgt« in sein Funkgerät sprach. »Wenn Sie uns bitte folgen würden«, bat der jüngere Beamte Dr. Sokrates, etwas zu höflich für eine Festnahme, wie dieser fand. »Wohin?«, wollte Dr. Sokrates wissen. »Wir fahren die nächste Straße links und verlassen nach zirka 500 Metern die geschlossene Ortschaft, von da an sind es noch ungefähr drei Kilometer bis zur ehemaligen JVA.« Die Beamten gingen zu ihrem Fahrzeug zurück. »Was sollen wir tun?«, fragte Dr. Sokrates in die Runde. »Folgen natürlich«, Walter hatte als erster die Sprache wieder gefunden und war durch die Frankfurter Ereignisse keinesfalls gewillt, ein weiteres Mal Ärger mit Ordnungshütern zu bekommen, »wir haben uns nichts vorzuwerfen, die Fahrzeugpapiere wollten sie gar nicht sehen und außerdem hat er ehemalig gesagt«. Dr. Sokrates hakte nach: »Was meinst du damit?« »Na, ehemalige JVA hat er gesagt, eingelocht werden wir jedenfalls nicht.« Da keiner der anderen etwas sagte, legte Dr. Sokrates den ersten Gang ein und fuhr hinterher.

Als sie das ehemalige Gefängnis, einen abweisenden Klinkerbau, erreichten, fiel Max als erstem ein überdimensionales Bauschild auf: »Freigang für alle. Hier baut die Stadt Brakel für Sie ein Designerhotel«, las er. »Na und, was haben wir damit zu tun?«, fragte Ferdinand unwirsch. Er hatte genug von leerstehenden Gebäuden. Sie hielten bei einer Gruppe, die sich nun in Richtung Tonne bewegte. Dr. Sokrates öffnete die Tür und stieg aus. Alle folgten ihm, bis auf Ferdinand, dieser hatte sich aus dem Geschehen ausgeklinkt. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie so überfallen haben, aber die Sache eilt«, wurde Dr. Sokrates aus der Gruppe angesprochen. »Welche Sache, und wer sind Sie?«, fragte Ludwig. »Pardon, ich bin der Bürgermeister und damit der Bauherr des Projekts Freigang. Wir errichten hier ein Designerhotel und unter anderem würden wir das Haus gerne mit ihren Klinken ausstatten.« »Also Zellen zu Suiten«, frohlockte Dr. Sokrates, »aber warum die Eile?« »Zunächst, mit Ihnen zusammenzuarbeiten wäre uns eine große Ehre. Aber wir brauchen Ihre schnelle Ent-scheidung, denn momentan gibt es noch keine Ausschreibung, und auf diese Weise ersparen wir uns den späteren Eingriff in ein schwebendes Verfahren.«
Dr. Sokrates blickte fragend in die Runde. »Was meint Ihr?« »Ein schöner Auftrag«, meinte Max, und die anderen nickten zustimmend. »Wir sollten noch Ferdinand fragen, und wenn er auch zustimmt, greifen wir zu«, sagte Dr. Sokrates. »Ich bin einverstanden.« Ferdinand war, von allen unbemerkt, aus der Tonne gestiegen. Dr. Sokrates reichte dem Bürgermeister die Hand und sprach zu sich und den Umstehenden: »Schlagen Sie ein, guter Mann, so haben wir es zum Ende doch wirklich gut getroffen. Die Auftragsbücher voll und alle Türen offen.« 14
1 Vgl. N. N., d. i. Johannes Canis, in: Hauszeitung der Firma Hill, Nr.2, Witten 931 o. P.
2 Zur Namensgenealogie vgl. Anzeigen der Firma FSB Brakel 2000 ff und: Aufstellungen der brasilianischen Nationalmannschaft bei den Fußballweltmeisterschaften 1982 und 1986.
3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1963, S. 115.
4 Zu den schönen Gedanken vgl. Reiner Zimnik, Geschichten vom Lektro, Hamburg 1962.
5 Vgl. Kunstmuseum Luzern (Red. Martin Kunz), Fragen an Lohse, Luzern 1985.
Die Antwort von Richard Paul Lohse auf die erste Frage von Fritz Billeter: »… Weggefährten, die präventiv zum Ausdruck brachten, dass sowieso nur einer im Ausland Platz hätte."
6 Albrecht Fabri, Variationen, darin Notizen S. 72-82, hier S. 73, Wiesbaden 1959.
7 Vgl. die Antwort des Diogenes' auf die Frage Alexanders, was der Philosoph für einen Wunsch habe, div. Quellen.
8 Vgl. Dieter Leisegangs Gedicht Kunstgriff, in: Aus privaten Gründen, Frankfurt a. M. 1973, S. 39 und 40.
9 Alexander Kluge in einer Umfrage der Zeitschrift Christ und Welt zum Thema Repräsentationsbauten 1958: »Bei weitem die glänzendsten Leistungen sind für mich die Universitätsbauten von Ferdy Kramer in Frankfurt am Main: … Hier entsteht eine Universität aus einem geistigen Zusammenhang, und ich bin sicher, dass mehr noch als das, was in dieser Universität geschieht, das Gehäuse die nächsten hundert Jahre überstehen wird.«
10 Nachträglich zum 20. Mai 2002 für Dieter Rams, herzlichen Glückwunsch.
11 Dies ist kein Wortspiel! Die Alternative «Ramschläden» würde die gleiche Vermutung nach sich ziehen.
12 Nach Recherchen der Autoren in der Heiligkreusgasse 16-20 geschehen, der genaue Wortlaut ist nicht mehr festzustellen.
13 Vgl. Qtto Kolb, Erinnerungen an Mies von der Rohe, Wermatswil o. J., S.12. In EmiIia Galotti 1,4 sagt der Prinz über ein ihm vorgestelltes Porträt: »Nicht so redlich, wäre redlicher«. Diesen Ausspruch formte Wieland in der Zeitschrift Merkur von 1774 folgendermaßen um: »Und minder ist oft mehr, wie Lessings Prinz uns lehrt.« Hieraus wurde nach Büchmann, Geflügelte Worte, 35. Auflage 1981,S. 85: »Weniger wäre mehr gewesen.«
14 Vgl. den Epilog in Bertold Brechts Der gute Mensch von Sezuan, z. B. in: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a. M. 1978, S. 641 und Peter Paul Zahl, Alle Türen offen, Berlin 1977.
Aus: Architektur zum Anfassen, FSB Greifen und Griffe, Frankfurt 2002
Arbeitsbeispiele/Fotografie
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